Bruder Jakob
Dass Geschwister verschiedene Lebenswege einschlagen, sich auseinanderleben und manchmal auch aus den Augen verlieren oder gar den Kontakt abbrechen, ist keine Seltenheit; es kommt buchstäblich in den besten Familien vor. Und gerade in letzter Zeit hört man – zumeist durch Berichte in den Medien, die mal mehr, mal weniger spekulativ, aber stets spektakulär sind, – von Zerwürfnissen, die darin begründet sind, dass junge Männer oder Frauen zum Islam konvertieren und dann im Extremfall eine Radikalisierung durchlaufen, die manche von ihnen als IS-Kämpfer bis nach Syrien oder in den Irak führt.
Der junge Filmemacher Elí Roland Sachs kennt solche Geschichten – wenngleich nicht in der eben geschilderten extremen Ausformung – nur allzu gut; sein eigener Bruder Jakob ist den Weg zumindest teilweise gegangen. Die seltene Ausnahme: Die beiden Brüder haben während dieser Zeit nicht den Kontakt zueinander verloren, vielmehr konnte der Regisseur seinen Bruder über zwei Jahre hinweg mit der Kamera begleiten. Herausgekommen ist eine sehr nahe Langzeitbeobachtung, die sich bei aller Brisanz nicht allein auf die weltanschaulichen Aspekte konzentriert, sondern vor allem die emotionalen Verwerfungen untersucht und dokumentiert.
Die Nähe zwischen den beiden Brüdern ermöglicht Einblicke und Erkenntnisse, wie man sie sonst kaum je in einem Dokumentarfilm gesehen hat. Das liegt aber nicht allein an der Verwandtschaft, sondern auch an der schlichten Tatsache, dass Jakob ein unglaublich ernsthafter Mensch ist, ein Sinnsucher, der wie viele andere Menschen unserer Zeit das Erodieren der Religionen und Ideologien nicht als befreiend, sondern vielmehr als belastend versteht. Und vielleicht muss man dies berücksichtigen, wenn sich Jakob gemeinsam mit seiner Frau irgendwann unvermittelt vom Salafismus abwendet und sich einer neuen Glaubensrichtung, dem Bahaitum zuwendet, das alle religiösen Schriften als gemeinsames göttliches Erbe anerkennt.
Es ist ein weiter Weg des Suchens und Findens, des Verwerferns und Neuorientierens, den Elí Roland Sachs in seinem Film unternimmt – und bei aller Fremdheit, die bleibt, gehen Szenen wie jene Familienzusammenkunft, bei der Jacobs Frau wegen der unverhohlenen Ablehnung aufgrund ihrer Verschleierung in Tränen ausbricht, unter die Haut. Dennoch vermisst man auch manches: So ist es bedauerlich, dass man Jakob erst nach seinem Übertritt zum Islam bzw. zum Salafismus kennenlernt und dass der Film kaum je Hinweise darauf gibt, dass Jakob vorher ein ganz anderer Mensch war – zumindest nach außen hin. So ist im Presseheft unter anderem zu lesen, dass er früher durch die Clubs zog, kiffte und als DJ auflegte – Lebensumstände, von denen auch in den Gesprächen selbst nur wenig zu erfahren ist. Auch die Phase des Übergangs bzw. der Hinwendung zum Islam wird lediglich als Erweckungserlebnis während eines Marokko-Aufenthalts beschrieben. Ebenso wenig erfährt man als Zuschauer über Jakobs nähere Lebensumstände: Arbeitet oder studiert er? Und was sagt dieses Umfeld von ihm zu den Wandlungen, die der junge Mann durchmacht und nach außen vertritt.
Bedauerlich ist zudem auch, dass das Thema Gewalt und Dschihad niemals wirklich zur Sprache kommt – dabei ist gerade dies die Frage, die sicher die Zuschauer auch interessiert hätte. Denn hier hätte es die Chance gegeben, mediale Konstruktionen zu hinterfragen und gegebenenfalls zu revidieren. Zumal insbesondere der im Film auftauchende Imam Abdul Adhim Kamouss eine durchaus differenzierte Haltung zur Gewalt hat – dies sind aber abermals Informationen, die im Film selbst nicht zur Sprache kommen, sondern die sich im Pressematerial verbergen.
So bleibt am Ende zweierlei: einerseits ein Werk, das so nah wie vielleicht kein anderer Film Einblick gibt in die Gedankenwelt eines Sinnsuchers und darin, was das für ihn und sein engstes Umfeld bedeuten kann. Zum anderen bleiben viele Fragen offen – sie bilden aber eine gute Ausgangsbasis für Diskussionen, die sich sicherlich am Ende von Bruder Jakob ergeben werden. (Joachim Kurz/Kino-Zeit)